Zero und Nouveau Réalisme
Die Befragung der Wirklichkeit
Ab Mitte der 1950er-Jahre entwickelten sich in der europäischen Kunst neue Strategien der Aneignung von Wirklichkeit, die sich in Werken, Texten und einem Netzwerk aus befreundeten Künstlern manifestierten. Junge Maler und Bildhauer widersetzten sich der Visualisierung von inneren, psychischen Vorgängen, wie sie in der vorherrschenden Kunst des Informel praktiziert wurde. In Städten wie Mailand, Düsseldorf oder Paris fand sich die neue Künstlergeneration und entdeckte, dass auch ihre Kollegen jenseits der nationalen Grenzen ähnliche Ziele verfolgten. Die Ablehnung der informellen Kunst war ihre wichtigste Gemeinsamkeit. ZERO, Azimuth, G58, GRAV oder Nouveau Réalisme waren Gruppierungen, die sich in den Schnittmengen künstlerischer Interessen und Methoden bildeten. Künstler gleicher Gesinnung stellten zusammen aus, veröffentlichten in selbst herausgegebenen Publikationen und nahmen gemeinsam an Aktionen teil. Sie stellten die gleichen Fragen an die Welt und kamen in ihren Werken und theoretischen Reflexionen zu vergleichbaren Antworten. Die Frage nach der Relevanz der Kunst für die Gestaltung der Wirklichkeit führte sie zu einer Reduktion ihrer Bildsprachen, um objektivierbare Ergebnisse in den Werken zu ermöglichen. Die Kunstwerke stellten eine Aneignung und Befragung der Wirklichkeit dar und sollten zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Realitäten in Kunst und Leben führen. Es etablierten sich Themen wie Monochromie, serielle Strukturen, Zufall, Licht und Feuer als technisch-künstliche oder elementar-natürliche Medien der Bilderzeugung. Neben der Reduktion der Bildsprache und den damit verbundenen Experimenten in den Bereichen Form, Material und Technik war die Expansion des Kunstwerks ein zentraler Aspekt bei ZERO und Nouveau Réalisme. Der Begrenzung in Farbe und Form sowie der methodischen Reduktion der Künstlerhandschrift standen räumliche, materielle und mediale Entgrenzungen dialektisch gegenüber.
Im Januar 1963 proklamierte Otto Piene bei einer öffentlichen Rede in Krefeld einen „Neuen Idealismus“, den er deutlich in Abgrenzung zum Neuen Realismus etablierte. Piene sah ZERO und Nouveau Réalisme „verwandt und doch im Wesen entgegengesetzt“. Ausgehend von dieser Proklamation entstand eine kontroverse Auseinandersetzung zwischen den drei Düsseldorfer ZERO-Künstlern Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker, die sich zu einer zentralen Ursache für die Trennung der Gemeinschaft am Ende des Jahres 1966 auswuchs. Bereits im Mai 1965 wurde im Kontext der von Wieland Schmied in der Kestnergesellschaft organisierten Ausstellung ZERO: Mack, Piene, Uecker eine wachsende Distanz zwischen den drei Protagonisten sichtbar.
Die Ausstellung, eine Kooperation zwischen der Stiftung Ahlers Pro Arte und der ZERO foundation, wird ermöglicht durch das Engagement der Ahlers AG. Untersucht werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ZERO und dem Nouveau Réalisme. Der Fokus liegt dabei auf den beiden Aspekten Materialaneignung und Struktur. In Anlehnung an die historische ZERO-Ausstellung in der Kestnergesellschaft wird ZERO von Mack, Piene und Uecker repräsentiert. Die Werke der Nouveaux Réalistes werden aus den umfangreichen Beständen der ahlers collection gespeist. Hierbei sollen Kunstwerke von Arman, Yves Klein, Raymond Hains und Jacques Villeglé im Vordergrund stehen. Daneben werden auch Arbeiten von François Dufrêne, Niki de Saint Phalle, Daniel Spoerri und Jean Tinguely präsentiert.
Die Ausstellung umfasst rund einhundert Gemälde, Skulpturen, Graphiken und Objekte. Neben Werken aus der ahlers collection sowie der ZERO foundation werden wichtige Leihgaben aus europäischen Museen und Privatsammlungen gezeigt.
In der begleitenden Publikation werden neben einer Einführung des Kunstwissenschaftlers Dirk Pörschmann (ZERO foundation) zwei historische Texte der Kunstkritiker Wieland Schmied und Pierre Restany veröffentlicht, die den Kontext der theoretischen Auseinandersetzung herstellen. Der ZERO positiv zugewandte Wieland Schmied sowie Pierre Restany, der als der theoretische Kopf des Nouveau Réalisme galt, bieten hierfür die besten Voraussetzungen, da sie die Künstler über viele Jahre hinweg intensiv begleitet und über die Nachkriegsavantgarden umfassend publiziert haben.