Richard Lindner

Großstadtzirkus

Unter dem Titel „Großstadtzirkus“ zeigt die Stiftung Ahlers Pro Arte / Kestner Pro Arte eine Werkschau zu Richard Lindner (Hamburg 1901 – 1978 Paris). Mit rund 50 Ölgemälden, Aquarellen und Zeichnungen werden Einblicke in verschiedene Schaffensphasen von den 1950er bis 1970er Jahren gegeben. Werke des Künstlers sind weltweit in bedeutenden Museen vertreten, etwa im Museum of Modern Art und im Whitney Museum of American Art in New York, im Centre Georges Pompidou in Paris, in der National Gallery of Art in Washington und in der Tate Gallery in London. Dank der Zusammenarbeit mit den Nachlassinhabern enthält diese Ausstellung - als erste Gesamtschau in Hannover seit der Retrospektive 1968 in der Kestnergesellschaft - zahlreiche bislang nie öffentlich gezeigte zeichnerische Werke. Diese Vorstudien zu den Gemälden veranschaulichen die akribische Eroberung der Bildfläche durch den einstigen Illustrator.

Wie in einem Zirkuszelt präsentierte der in Hamburg geborene, 1933 zunächst nach Paris, später nach New York emigrierte Künstler seine Schattenfiguren des Großstadtlebens: Diebe, Prostituierte oder Spieler als Protagonisten gesellschaftlicher Randbereiche. Der Sinn für die Absurdität des Menschlichen verleiht Lindners Bildsprache, welche die grotesk-karikaturistischen Elemente der Neuen Sachlichkeit mit der farbintensiven, collagenartigen Flächigkeit der Pop Art vereint, eine besondere Kraft. Formal und inhaltlich entzog sich Lindner dabei einer Positionierung innerhalb der vorherrschenden künstlerischen Strömungen seiner Zeit und oszillierte zwischen der Kulturwelt Europas und der Nordamerikas.

Die Flucht aus dem nationalsozialistisch besetzten Deutschland aufgrund seiner jüdischen Wurzeln wurde für Lindner auch künstlerisch zu einem entscheidenden Wendepunkt. Nach einer frühen Karriere als Illustrator galt sein Interesse fern der Heimat zunehmend den politischen und kulturhistorischen Zerfallserscheinungen seiner Zeit. Ihnen ging er fortan in malerischen Untersuchungen der Alltagswelten moderner Großstädte nach. Intellektuell untermauerte er seine Beobachtungen durch literarische Studien u.a. zu Baudelaire, Flaubert, Rimbaud, Strindberg und Heinrich Mann.

Lindners Formensprache enthält Anklänge an kubistisch beeinflusste Künstler wie Fernand Léger und Oscar Schlemmer, durch deren Vorbild er sich sowohl vom Abstrakten Expressionismus Nordamerikas als auch vom Informel der europäischen Nachkriegszeit lösen konnte. Bereits die frühen Arbeiten der fünfziger Jahre auf Papier und Leinwand sind Belege für diese künstlerische Unabhängigkeit.

Thematisch sind Lindners Kompositionen mitgeprägt von Erinnerungen an die Kindheit in Nürnberg. Seine Mutter betrieb dort ein Geschäft für maßgeschneiderte Korsetts, und schon früh entwickelte er ein Interesse an Voyeurismus und Fetischismus, am weiblichen Körper und an femininer Erotik. Die Figur der Frau gewann eine maßgebliche Stellung in seinem Oeuvre. Er stellte ihre Stärke und Dominanz im Gegensatz zur Hilflosigkeit des Mannes dar, wie sie sich etwa auch im ikonenhaften Mythos von Marylin Monroe manifestierte. Lindner äußerte sich hierzu so: „The Woman is in any case more interesting than the man. The woman has imagination. That helps her to survive. The man, by contrast, is a simple affair, both physically and physiologically. The woman is the stronger, she is geared towards giving the man his lumps of sugar, as long as she gets something for them. But now, at the end of the 20th century, she wants to keep the sugar for herself“ (zit. n. W. Spies, Richard Lindner: Cat. Rais., 1999, S. 10). Bevorzugt wählte er das Motiv des Paares, um Rollenbilder zu thematisieren und die gegenseitige Anziehung zwischen Mann und Frau wie in einem erotischen Puzzle zu verbildlichen.

Richard Lindner kreierte seinen eigenen Großstadtzirkus, dessen psychologische Verfremdung und mystische Erotik an die Bildwelten von Künstlern wie George Grosz und Otto Dix erinnern. Bei ihm war es aber vor allem das Panorama der New Yorker Halb- und Unterwelt, das entscheidend zur Herausbildung seiner individuellen Ikonographie beitrug. Mit seiner unverwechselbaren Bildsprache wurde Lindner zu einem der wichtigsten Wegbereiter der Pop Art.

Anlässlich der Ausstellung erscheint im Kerber Verlag ein dreisprachiger Katalog (deutsch/englisch/französisch) mit einem Textbeitrag von Sylvie Camet.

Richard Lindner

The Couple, 1971
Öl auf Leinwand
Sammlung T.A.L., Hamburg
© VG Bild-Kunst, Bonn 2017

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Kontur, Farbe, Licht: Das Wesentliche zeigen

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August Macke